Interview mit der damaligen Bürgermeisterin, Gabriele Winter

 

Frage: Erinnern Sie sich daran, wie es war, als vor 10 Jahren viele Geflüchteten neu nach Griesheim kamen? Wie waren die ersten Tage hier?

 

Gabriele Winter:

Natürlich waren auch wir hier in Griesheim zunächst irgendwie überrascht, dass wir quasi vom einen auf den anderen Tag eine große Zahl von Geflüchteten unterbringen sollten.

Als Bürgermeisterin war ich damals – und bin es persönlich noch bis heute – vor allem für drei Dinge sehr dankbar:

1.    Der Landkreis Darmstadt-Dieburg ließ uns als Kommune nicht allein. Er wies uns nicht, wie andernorts üblich, einfach Geflüchtete zu und wir hätten zusehen müssen, wie und wo wir sie so schnell unterbringen. Er unterstützte uns vor allem durch die Anmietung und den Betrieb von Liegenschaften in Regie des Kreises.

2.    Im Rathaus waren sehr schnell Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit, sich in Kooperation mit dem Landkreis um Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten zu kümmern. Sie brachten umgehend ihre Fachkenntnisse wie auch ihr persönliches Engagement ein.

3.    Rüdiger Mey, ehrenamtlicher Erster Stadtrat, setzte sich unmittelbar mit einem unglaublichen persönlichen Engagement für die Organisation und Betreuung ein. Er fungierte als Bindeglied zwischen Magistrat, städtischer Verwaltung, Landkreis, Kindergärten, Schulen und Ehrenamtlichen und koordinierte mit seinem Sach- und Organisationsverstand als Vorsitzender die Arbeit des später gegründeten Arbeitskreises Asyl.

Es entwickelte sich bei mir sofort das Gefühl, dass wir in diesem Zusammenspiel von Politik, Verwaltung, Ehrenamt und Stadtgesellschaft gemeinsam eine gute Unterbringung der Geflüchteten in Griesheim realisieren können.

 

Frage: Was waren die wichtigsten Erfahrungen in dieser Zeit? An was erinnern Sie sich besonders gerne? Was hätten Sie sich anders gewünscht?

Gabriele Winter:

Zu meinen besten und nachhaltigsten Erfahrungen und Erinnerungen gehört, dass es eine unglaublich große Unterstützung aus der Bevölkerung heraus gab und zum ersten Mal keinerlei politische Diskussionen über den vermeintlich besten Weg. Vielmehr haben alle mit angepackt, Solidarität, ehrenamtliches Engagement und Respekt, Nächstenliebe und Humanität sind für mich an dieser Stelle die prägenden Begriffe.

Viele Menschen in unserer Stadt erinnerten sich auch noch gut daran, dass sie selbst oder ihre Vorfahren einmal Flucht und Vertreibung erleben mussten und froh waren, in Griesheim ein neues Zuhause gefunden zu haben.

Das riesengroße ehrenamtliche Engagement muss ich an dieser Stelle noch einmal betonen, denn es führte ja dazu, dass der Arbeitskreis Asyl als städtische Organisation und der Förderverein Asyl Griesheim e.V. ins Leben gerufen wurden und sie bis heute sehr aktiv sind.

Zudem war es für unsere Kindertagesstätten und die örtlichen Schulen eine Selbstverständlichkeit, geflüchtete Kinder aufzunehmen und ihnen damit Teilhabe und rasche Integration zu ermöglichen.

Noch immer wünsche ich mir, dass alle Geflüchteten, egal, ob sie Aufenthaltsrecht haben oder nicht, umgehend Deutschkurse besuchen und Informationen über unsere Verfassung und Gesellschaft erhalten. Das ist für mich eine Frage von Respekt und Humanität.

Aus meiner langjährigen ehren- und hauptamtlichen politischen Tätigkeit weiß ich, dass dies nicht so einfach möglich ist, schon alleine, weil die personellen und finanziellen Ressourcen fehlen.

Aber mein persönlicher Wunsch bleibt es dennoch. Denn selbst wenn Geflüchtete kein Bleiberecht in Deutschland bekommen sollten, so hätten sie doch etwas – und, auch das ist mein Wunsch, hoffentlich nur Positives – über uns in Deutschland erfahren und könnten dies als Botschafter weitertragen.

Eine besondere Erinnerung verbinde ich mit der Familie, die als erstes in Griesheim untergebracht wurde. Sie waren aus Afghanistan geflüchtet, Vater, Mutter und zwei Söhne, einer noch ein Säugling. Von weiteren Familienangehörigen waren sie auf der Flucht getrennt worden und der Schmerz, nicht zu wissen, was mit ihnen ist, stand ihnen bei meinem Besuch ins Gesicht geschrieben.

Nur wenige Monate später begrüßte ich die Ferienspielkinder in der Wagenhalle und ein kleiner Junge kam auf mich zu und fragte mich in beeindruckend gutem Deutsch, ob ich ihn noch kennen würde. Es war der größere der beiden Söhne dieser Familie, der bis dahin schon mehr als ein halbes Jahr die Schule besuchte. 2025 wird er an der GHS sein Abitur ablegen.

 

Frage: Wie sehen Sie die Zusammenarbeit mit dem AK Asyl und dem Förderverein Asyl Griesheim e.V.

Gabriele Winter:

Ich habe die Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis wie mit dem Förderverein immer als sehr konstruktiv und produktiv angesehen, auch wenn sich nicht immer alle Fragen völlig problemlos lösen ließen. Wir haben ihnen in Griesheim hinsichtlich der Betreuung der Geflüchteten viel zu verdanken. Die vielen Griesheimerinnen und Griesheimer, die sich hier mit persönlichem Engagement, vielen guten Ideen, Sachkenntnis und der auch immer notwendigen Beharrlichkeit einbringen, tragen in besonderem Maße zur Integration und zum respektvollen Zusammenleben aller Menschen in unserer Stadt bei.

 

Frage: Was erwarten Sie in den nächsten Jahren?

Gabriele Winter:

Wir werden vor allen Dingen große gemeinsame Anstrengungen unternehmen müssen, um allen Menschen in unserer Stadt bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen zu können, und zwar egal, ob sie hier geboren sind, ob sie z.B. berufsbedingt zuziehen oder ob sie hier Zuflucht suchen.

Für mich ist dies die zentrale Aufgabe des kommenden Jahrzehnts und ich erwarte hier auch ganz konkret von Bund, Land, Kommune und Privaten, dass sie noch viel mehr gemeinsame und kreative Anstrengungen unternehmen, um Wohnungen zu bauen, deren Mieten sich Studierende wie ältere Menschen, Mitarbeitende in der Pflege, im öffentlichen Nahverkehr oder bei der Straßenmeisterei, um nur einige wenige Beispiele zu nennen, auch leisten können.

Und ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass wir uns alle wieder voll und ganz darauf besinnen, was uns als Menschen ausmacht: Gemeinsinn, Solidarität, Respekt, Achtsamkeit und Rücksichtnahme. Wir könne gemeinsam so viel bewegen und erreichen, das haben wir gerade in Griesheim in den letzten 80 Jahren bewiesen.

 

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