Flucht nach Enthauptung der Chefin

Mohamed Al Ali ist einer der Asylbewerber in der Bunsenstraße – Er entkam dem IS im Irak 

(tb) Mohamed Al Ali ist einer der Flüchtlinge im Asylbewerberheim in der Bunsenstraße. Der Iraker ist 26 Jahre alt und kommt aus Mossul, der zweitgrößten Stadt im Irak. Dort hat er bis Juni 2014 Geschichte studiert und sich ehrenamtlich bei der Hilfsorganisation „Human Rights Watch“ engagiert, die durch unabhängige Untersuchungen und Öffentlichkeitsarbeit versucht, die Menschenrechte zu wahren. Über ein Jahr später sitzt Mohamed Al Ali jetzt in einem Gruppenzimmer in der Bunsenstraße und erzählt die Geschichte von seiner Verfolgung und Flucht, nachdem seine Vorgesetzte von Terroristen des IS öffentlich enthauptet worden war. 

Das Leben in Mossul war zum Schluss nicht leicht für Mohamed Al Ali. Vor etwa einem Jahr nahm der Islamische Staat (IS) die zweitgrößte Stadt im Irak ein. Seitdem leben die Bewohner in Angst und Schrecken.  Die Entscheidung zur Flucht traf Al Ali „in einer Nacht und Nebel Aktion“, wie er im Gespräch mit dieser Zeitung erzählt. Nachdem er erfahren hatte, dass seine Nachbarin, gleichzeitig auch seine Vorgesetzte bei der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“, und ihr Mann gekidnappt und vor laufender Kamera enthauptet worden waren. Der IS drohte allen Helfern der Menschenrechtsorganisation mit Enthauptung, Al Ali entschloss sich, seine Heimat so schnell wie möglich zu verlassen.

Er entschied sich zur Flucht. Er ließ seine Eltern und seine drei älteren Brüder zurück und flüchtete vorerst aus der Stadt in Richtung des autonomen kurdischen Gebiets im Nordirak, wo er sich als Bewohner von Mossul illegal einschleusen lassen musste. Normalerweise braucht man mit dem Auto etwa zwei Stunden, um die Strecke zu bewältigen, Al Ali war insgesamt 13 Stunden auf der Straße, um unbemerkt in die Stadt zu kommen.

Sein nächstes Ziel war Sulaimaniyya, eine Stadt in der Nähe der iranischen Grenze. Von dort aus konnte er mit dem Flugzeug und seinem irakischen Pass nach Istanbul fliegen. Mit dem Bus ging es weiter nach Izmir, eine Stadt am Ägäischen Meer. Dort musste er drei Monate verbringen – mittlerweile war es Anfang Februar – um mit einem Schlauchboot und 14 weiteren Flüchtlingen das Meer zu überqueren und auf die griechische Insel Kos zu gelangen.

Zu diesem Zeitpunkt herrschten noch andere Verhältnisse auf Kos. Heute ist die Insel in den Medien bekannt als Anlaufpunkt zahlreicher Flüchtlinge. Im Februar war noch weniger los auf der beliebten Ferieninsel. „Die Zustände sind erschreckend“, sagt Al Ali. Schon als er auf die Insel kam, musste er sich vor der Polizeistation anstellen, um registriert zu werden und Fingerabdrücke machen zu lassen. Schließlich konnte er nach fast einer Woche auf Kos doch nach Athen verschickt werden, von wo aus er zu Fuß erst nach Makedonien, dann nach Serbien und Ungarn gelaufen ist. 

In Ungarn war er seinem Ziel Deutschland dann ganz nah. In Budapest tat er sich mit zwei weiteren Asylsuchenden zusammen, bestach einen Taxifahrer und ließ sich bis kurz vor München fahren. In der bayerischen Metropole entdeckten ihn Polizisten, die Al Ali mit auf die Polizeistation zum Verhör nahmen. Schnell wurde er wieder gehen gelassen. Als Ziel hatte sich Al Ali Dortmund gesetzt, da dort auch ein Bekannter von ihm untergekommen ist. In Dortmund angekommen, musste er aber schnell feststellen, dass er erst zu einer ersten Aufnahmestelle gebracht werden musste, bevor er einer Stadt zugeteilt werden kann. So kam der Iraker nach Gießen in die Erstaufnahmestelle. „Der Zustand in Gießen war furchtbar. Man musste sich fast zwei Stunden anstellen, um etwas zu essen zu bekommen, und es kam regelmäßig zu Prügeleien und Ausschreitungen. Einen Monat und fünf Tage musste ich in Gießen verbringen. Und damals war es noch nicht so voll dort wie heute“, erinnert sich Al Ali. 

Am 16. April erreichte Al Ali schließlich Griesheim. Seine Flucht hatte nach knapp einem Jahr endlich ein Ende. Seither lebt der junge Mann mit zwei Mitbewohnern in einem 20 Quadratmeter großen Zimmer in der Bunsenstraße. „Ich bin in der Fremde angekommen“, so beschreibt Al Ali sein neues Zuhause. „Als er in Griesheim ankam, war er schüchtern, er konnte keinen verstehen und keiner verstand ihn“, erinnert sich Wieland Eschenhagen, zweiter Vorsitzender des Fördervereins Asyl. „Mit der Zeit ist er aber aufgetaut und hat wieder Vertrauen gefasst und Sicherheit gefühlt“, so Eschenhagen weiter. „Jetzt ist die Bunsenstraße ein Stück Zuhause geworden“, fügt Al Ali dazu.

Obwohl das Leben im Asylbewerberheim auch nicht einfach ist. Jede Woche werde die Einrichtung voller, die Flüchtlinge fänden kaum noch Ruhe oder Privatsphäre in der Wohngemeinschaft, erklärt Eschenhagen. Al Ali stört das aber nicht. „Ich bin angekommen“, sagte er erleichtert. Der Iraker ist dankbar für das „Zimmer und das Bett in einem richtigen Haus“. Auch er verfolgt die Situation in Darmstadt und Umgebung und ist froh, nicht in einer Zeltstadt untergebracht zu sein. „Ich bekomme die Dramatik um die Flüchtlingssituation auch mit. Der Zustand zur Zeit meiner Flucht mit Heute ist kaum zu vergleichen, auch wenn da nur etwa ein Jahr dazwischen liegt. Auch der Zustand in meiner Heimat hat sich verschlechtert.“

Kontakt zu seiner Familie hat Al Ali kaum noch. In unregelmäßigen Abständen kann er ab und an eine Verbindung zu seinen Eltern herstellen, die sich noch im Irak und jetzt ebenfalls auf der Flucht befinden. Seine Brüder sind in Mossul, das mittlerweile komplett von der IS abgeschottet ist, gefangen. 

Für die Zukunft hofft Mohamed Al Ali, vorerst richtig deutsch zu lernen, um dann sein Geschichtsstudium fortzusetzen. Ob und wann er seine Familie wiedersehen wird, weiß der 26-Jährige nicht. Auf die Frage, ob er glaubt, dass sich die Lage im Irak in den nächsten Jahren verbessern wird, weiß er keine Antwort.

Weitere Schicksale und Erfahrungen von Asylbewerbern in der Bunsenstraße auf der Seite 5 dieser Zeitung.